Zeitkapsel 008: Wintersonnenwende auf dem Schneeberg 21.12.2013

In seinem neuen Beitrag für unseren Blog schreibt Gastautor Gerhard Hallstatt darüber, wie er einst die Wintersonnenwende auf dem Schneeberg verbrachte. Der Winterraum dort oben ist heute wahrscheinlich noch geschlossen – „wegen Corona“. Sollen die Leute halt erfrieren …

Gerhard Hallstatt gibt uns die Ehre, in unregelmäßigen Abständen einige seiner „Zeitkapseln“ in unserem Blog zu veröffentlichen: Photographien von einzelnen „magical mystery tours“ mit Tagebuchaufzeichnungen.

Dramatis personae: Gerhard Hallstatt, Feuer, Wintersonne
Schauplatz: Schneeberg, Niederösterreich

„Ich trug meine eigene Asche zu Berge, eine hellere Flamme erfand ich mir.”
(Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra)

MORGENS STIEG ICH in den Zug nach Puchberg am Schneeberg. Es war der einundzwanzigste Dezember. Es war noch dunkel. In meinem Rucksack hatte ich Schlafsack, Luftmatratze und eine Decke, vor allem aber Papier, Holz und Zünder für ein kleines Wintersonnwendfeuer. Vor dem Aufbruch war ich nicht ganz sicher, ob ich tatsächlich auf dem zweitausend Meter hohen Schneeberg übernachten sollte. Als ich aber aus dem Haus gegangen war, war diese Ungewißheit einer Zuversicht gewichen: Ja. Auch ein Buch nahm ich mit, Brot, Käse, Wasser, eine Thermosflasche mit Tee und eine kleine Flasche Enzianschnaps. Ich freute mich auf den Aufstieg. Er versinnbildlichte für mich eine Steingeburt. Ich dachte an die Entstehung des Gottes Mithras aus der petra genetrix.

HEUTE WAR DER letzte Herbsttag, der kürzeste Tag des Jahres und die längste Nacht vor dem Winter. Das Land aber wirkte eigentümlich zeitlos, es war braun wie die Gedichte von Georg Trakl. Und grau wie Alfred Kubins Zeichnungen war der Himmel mit seinen düsteren Wolken. Ich bewegte mich auf ein unsichtbares Irgendwo namens Schneeberg zu, das dort begann, wo der Zug endete. Endlich entdeckte ich auf einigen Wiesen etwas Schnee: Nachts hatte es ein bißchen geschneit. Ich war auf der Suche nach dem Winter, der Wintersonne. Vor mir lag der Aufstieg auf einen alten, vertrauten Berg, der doch jedesmal etwas anders war: Zwischen zwei Aufstiegen veränderten sich Berg und ich.

ICH STIEG AUS dem Zug. Einzelne Schneeflocken. Ein Bub mit einer schweren Schultasche kam mir entgegen. Er erinnerte mich an meine Kindheit. Es war, als würde ich mir selbst begegnen, und ich kam mir vor wie er: Auch ich war auf dem Weg zur Schule. Für mich begann das neue Schuljahr um Mitternacht. Aber immer noch hüllten graue Wolken dämonisch den Berg ein, und die Sonne war unsichtbar. Ob auch mein nächtliches Feuer grau sein würde?

DER AUFSTIEG WAR mühelos. Es lag kaum Schnee. In meinem  Rucksack trug ich Holz auf den Berg, ließ hinter mir und unter mir ein altes Jahr zurück, Herbst, Stadt, Vergangenheiten. Nach drei Stunden war ich auf achtzehnhundert Meter. Ich wußte, daß hier auf einem Hügel das kleine Elisabethkirchlein stand, dessen archaische Gestalt mich oft an ein Bauwerk in Armenien denken ließ. Im hellgrauen Nichts aber war heute das Kirchlein unsichtbar, verborgen in einer terra incognita. In zwanzig Meter Entfernung sah ich undeutlich eine Gemse. Sie schien überrascht, daß um diese Jahreszeit jemand unterwegs war. Ich dachte an eine Sage aus den Dolomiten, in der der Nebel als Hüter der Tiere beschrieben wurde, weil er sie der Sicht der Jäger entzog. Durch knöcheltiefen Schnee stapfte ich auf der Hochebene zwei Stunden von einer Schneestange zur nächsten. Sie führten mich sicher zum Gipfelgrat.

UM VIER UHR nachmittags war ich bei der Fischerhütte auf zweitausendfünfzig Meter. Der Gipfel des Schneebergs war sehr nahe, aber unsichtbar. Immer noch herrschte dichter Nebel. Die Hütte sah ich erst, als ich wenige Meter vor ihr stand. Lange Eiszapfen hingen vor den Fenstern. Die Tür zum Winterraum war glücklicherweise offen. Innen lagen Matratzen und Decken. Es gab auch ein kleines Thermometer: +7°. Auf einem Tisch lagen Schokolade, Packungen mit Nüssen, daneben war eine kleine Kassa, in der etwas Geld war. In der Ecke standen drei Kisten Puntigamer Bier. Ich war froh, mein Ziel erreicht zu haben. Ich kannte den Raum, ich hatte in ihm schon öfters übernachtet.

AUF DEM TISCH entzündete ich einige Kerzen, um etwas Licht zu haben und auch den Raum etwas zu wärmen. Ich jausnete, trank Bier, trank etwas Enzianschnaps. Hier würde in wenigen Stunden der Herbst zum Winter werden. Ich benahm mich etwas anders als sonst, beglückwünschte mich, beim Aufstieg recht kameradschaftlich gewesen zu sein. Ich war alleine, der ganze Berg schien mein Eigentum und Heiligtum. Heute würde ich wohl keiner Menschenseele mehr begegnen. Und doch war mir bewußt, daß ich den Raum mit all jenen teilte, die hier schon Winternächte verbracht hatten. Vor genau einem halben Jahr hatte ich zur Sommersonnenwende im Heidentor bei Carnuntum übernachtet.

„Jeder nämlich hat seine Tag- und seine Nachtseite, und mancher wird mit der Dämmerung ein anderer.“
(Ernst Jünger: Eumeswil)

EINE STUNDE SPÄTER war es draußen bereits finster. Der Nebel war jetzt schwarz. In der Nähe der Hütte suchte ich einen windstillen Ort. Auch mein kleines Feuer brauchte Stille, um entstehen zu können. Der Abgrund war nur wenige Meter entfernt. Es war kälter geworden. Aus dem Rucksack nahm ich Papier und Holz. Ich legte alles in den Schnee. Bald züngelten die Flammen, honigfarbener Rauch stieg auf. Das Feuer war nicht groß, es hatte etwa den Durchmesser einer Schallplatte. Und es knisterte wie Vinyl. Das Knistern wurde stärker, als ich einige Tropfen Enzianschnaps opferte – chairete daimones. Ein schwarzes Licht umgab mich, und es war mir, als gäbe es nur dieses eine Feuer, nur diese eine Menschenleere auf zweitausend Metern, denn das goldene Feuer machte alles im Umkreis noch schwärzer.

UNTEN IM TAL lag das kleine Schneedörfl. Aber für die Menschen im Ort war mein Feuer unsichtbar. Es war so klein, daß ich es hätte umarmen können: Das neue Jahr, das neue Ja war noch jung. Die Frage war nicht, was das neue Jahr mir bringen würde – was würde ich dem neuen Ja bringen? Die leisen Geräusche im Feuer klangen wie Schritte im Schnee: Näherten sich späte Wanderer, die einen ähnlichen Plan hatten wie ich? Ich stellte mir das Jahr als eine vorgeschichtliche Schallplatte aus schwarzem Vinyl vor – eine Seite begann zur Wintersonnenwende, die andere zur Sommersonnenwende. Im Laufe der Jahrhunderte aber häuften sich die Kratzer, das Liedgut wurde leiser und leiser, das Knistern lauter, bis …

WIE EIN LEBENDES Wesen, ein goldenes Tier, suchte das Feuer meine Nähe, flackerte und züngelte immer wieder in meine Richtung. Allmählich schmolz der Schnee. Ein kleiner See bildete sich, er schimmerte wie ein schwarzer Spiegel unter dem goldenen Feuer. Unter Holz und feuchter Asche kam der steinige Grund zum Vorschein.

„Erlausche nur geschwind die Wesen in den Dingen. Hör sie im Feuer singen, hör sie im Wasser mahnen und lausche in den Wind: Das ist der Hauch der Ahnen. Die gestorben sind, sind niemals fort. Sie sind im Schatten, der sich erhellt, und im Schatten, der tiefer ins Dunkle fällt.“
(Birago Diop: Der Hauch der Ahnen)

ICH WAR NICHT allein: Etwas näherte sich. Ein leises Knurren wurde allmählich lauter, übertönte das Knistern. Stieg es aus dem Feuer? Ich hörte und spürte es in nächster Nähe. Und dann wurde mir klar, daß dieses Knurren aus meinem Inneren kam: Klänge waren es aus meiner Kehle, aus dem Zwerchfell. Unwillkürlich hatte ich – oder etwas in mir – leise zu singen begonnen. Aber es war kein Singen, es klang wie das Knurren, Summen mongolischer Kehlkopfsänger. Tief sang, summte und knurrte ich ins Feuer. Ich hütete es in der Nacht, bis nur noch etwas Glut in der Asche funkelte und der Rauch versiegt war. Der Himmel war nun nicht mehr ganz so schwarz, ich sah einzelne Sterne.

IM WINTERRAUM HATTE es jetzt +9°. Ich breitete einige Decken über meinen Schlafsack, schlüpfte hinein  und machte es mir gemütlich mit dem Enzianschnaps. Ich kam mir vor wie ein Märchenkönig in seinen geliebten Bergen, in seinem Winterquartier, dachte an das Schachenhaus von Ludwig II. Ich lag wach, las im Licht der Stirnlampe und machte mir einige Notizen. Aber bald war es meinen Händen zu kalt. Nachts erwachte ich mehrmals. Irgendwann nach Mitternacht standen die Sterne am Himmel: Es war, als sei mein kleines Feuer kräftig genug gewesen, um die Wolken und den Nebel des Herbstes zu vertreiben. Vielleicht aber war es auch mein chthonischer Gesang.

ES WAR HELL. Ich blickte auf meine Uhr: Es war halb acht. Ich trat aus der Hütte. Das Thermometer außen an der Holzwand zeigte –10° C: Der Winter war da. Aber durch die Windstille tat die Kälte nicht weh. In der Wintersonne strahlte die Hochebene wie die gleißende Gletscherlandschaft Glaesisvellir. Der Himmel war wolkenlos, enzianblau wie in einem Märchen. Nach all den Zwielichttagen im Herbst war das Licht fast zu stark für meine Augen. Im Osten war der Horizont safranfarben, und auch der Schnee schimmerte leicht orange. Im Westen aber war der Himmel blau, und über dem Horizont schwebte für eine halbe Stunde ein violetter Streifen.

DIE WINTERSONNE ABER schien nur für mich – denn nur ich befand mich über den Wolken. Zweihundert Höhenmeter unter mir überschatteten sie alle Niederungen. Ich blieb noch etwas in der Hütte, trank warmen Tee, aß eine Kleinigkeit. Dann brach ich auf, wanderte langsam, wie unter der Lupe der Zeit, und widerwillig durch die schneeweiße Menschenleere in Richtung Tal. Ich wollte gar nicht hinunter ins Kubingrau und Traklbraun, genoß die Stimmung „sechstausend Fuß über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen“, wie Friedrich Nietzsche in der Bergwelt Graubündens geschrieben hatte. Im warmen Sonnenlicht legte ich immer wieder den Rucksack in den Schnee, machte es mir auf ihm bequem und las einige Seiten. Ich ließ mir Zeit, denn ich hatte Zeit. Der Winter war da: Ich hatte die Wintersonne gefunden.

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