So – es reicht schon wieder! Genug mit der Hysterie! Weihnachten ist in genau drei Wochen und NICHT HEUTE SCHON!!! Entziehen Sie sich also schleunigst dem kitschigen X-mas-Gedudel, blasen Sie die Kerzen auf dem Adventkranz aus, räumen Sie die Vanillekipferln in den Kasten und fahren Sie in die Natur.
Als musikalische Begleitung empfehlen wir absolut unweihnachtlichen Punk- oder Hardrock aus dem Autoradio (bzw. im Zug, über Kopfhörer), als Wegzehrung anständige Wurstsemmeln und als Ziel zum Beispiel den Schöpfl, der in unserem Buch „Wandern im Wienerwald“ auf Route 28 begangen wird. Aber eigentlich ist es fast egal, wo Sie wandern; Hauptsache, es geht bergauf und ist weit weg von „Jingle Bells“.
Wie Sie – unabhängig von Ihrer körperlichen Kondition – am besten mit Steigungen fertigwerden, verrät Ihnen jetzt unser Lebensberater und Fachmann für höhere Philosophie des Alltags.
Wenn du da unten stehst, am Beginn eines schier endlosen Aufstiegs, ist dir alles egal. Ob du ein Wanderbuch schreiben musst oder dich da oben ein freundliches Ausflugslokal erwartet, zählt angesichts der zu erwartenden Höhenmeter nicht. Du fragst dich – auf gut Wienerisch – verzweifelt: „Do muaß i auffe?!“ (Wer an dieser Stelle „Hier soll ich hoch laufen?“ sagt, scheidet von vornherein aus.) Ja, da hinauf musst du, erbarmungslos, bis zum Gipfel, der jetzt noch gar nicht sichtbar ist …
Da gibt es, wie bei den meisten Problemen im Leben, nur eine Lösung: ignorieren und wegschauen. Wirf einen letzten mutigen Blick in die Höhe, schau dann zu Boden und geh los. Dabei zählst du deine Schritte. Nach 50 Schritten empfiehlt sich ein kurzes Umschauen, nur ein bissl nach vorne und auf die Seite, ob sich nicht vielleicht ein Hindernis auf dem Weg auftut. (Der Autor dieser Zeilen ist einmal, weil er diese Zwischenprüfung unterlassen hat, mit dem Kopf gegen einen Baumstamm gerannt, den irgendein boshafter Mensch über den Wanderpfad gelegt hat.) Dann wieder den Kopf nach unten gewandt, sodass du nur einen bis drei Meter Weg vor deinen Füßen siehst, und weiter.
Nach 100 Schritten hältst du zwei Sekunden inne, hebst das Haupt und blickst dich um. Schon ein ganzes Stück weiter, im Vergleich zu vorher! So soll es sein. Und weiter, die nächsten 100 Schritte, immer mit gesenktem Blick, wie ein Büßer auf dem Weg zum Altar.
Dass die 100-Schritte-Methode funktioniert, hat garantiert – so wie alles außer Erdbeben – psychologische Ursachen: Schaut man während des gesamten Aufstiegs stur nach oben und nach vorn, dann verzweifelt man irgendwann, weil nichts weitergeht. Oder gibt wegen Erschöpfung gleich auf. Richtet man seinen Blick aber nur in regelmäßigen, größeren Abständen auf den Weg, dann sieht man, welche Strecke man seit dem letzten Mal zurückgelegt hat; hat das Gefühl, etwas erreicht zu haben; schöpft neuen Mut und frische Kraft.
So einfach ist das mit der Psyche. Glauben Sie mir, ich habe selber eine …
Ein weiterer Grund, warum es wohltuend ist, den Boden zu betrachten, offenbarte sich dem Verfasser schon vor vielen Jahren, als er den alten Vater eines lieben Freundes kennenlernte. Der Mann sah hauptsächlich zu Boden, auch bei Gesprächen (zu denen er stets nur ein paar weise Worte beitrug) und wenn man ihm neue Leute vorstellte. („Er schaut in die Erd“, wie seine Verwandtschaft sagte.) Der Grund dafür erschließt sich jedem, wenn er selber in die Jahre kommt: Irgendwann hat man eh alles gesehen, ist alles gesagt, kommt nicht mehr viel Interessantes. Also kann man genauso gut wegschauen und sinnieren. Sollte versehentlich doch etwas passieren, was neuartig und faszinierend ist, dann lohnt sich das Aufschauen wenigstens.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Sie können jetzt wieder zu Boden blicken.
PS: Ähnliches gilt übrigens für unbebaumtes Flachland oder ganz leicht welliges Hügelland, wo man am Anfang der Wanderung in weiter Ferne deprimierenderweise schon das Ende sieht – z. B. in großen Teilen des Burgenlands oder des Weinviertels. Ja, ich weiß schon, dort geht man sowieso nicht wandern, aber manchmal kommt man doch in diese Situation. Und brettlebene, viel zu übersichtliche Strecken trifft man gelegentlich auch im Wienerwald an (ich erinnere nur an den Sonnenweg, der seinen Namen nicht zu Unrecht trägt, aus Wanderung 25 in unserem Buch). Die erwähnte Gehweise lässt sich auch für solche Streckenteile adaptieren – aber zählen Sie hier lieber gleich bis tausend …
PPS: Die beschriebene Methode lässt sich auch vor Weihnachten ganz gut anwenden. Schauen Sie weg, hören Sie weg, meiden Sie Zimtsterne und Adventkränze. Einmal im Tag wahrnehmen, dass die Welt noch ein wenig verrückter geworden ist, genügt vollauf. Den Rest können Sie (gern auch mit Hilfe von Psychopharmaka oder anderen beruhigenden Substanzen) ignorieren. Sie werden sehen – im Nu ist Weihnachten da und wieder weg, und dann haben Sie Silvester auch bald geschafft. (ph)