Zeitkapsel 001: Hintergratsee 28.06.2016

Unser Gastautor Gerhard Hallstatt wandert nicht nur im Wienerwald herum, sondern überall, wo es ihn hinverschlägt. Im ersten seiner Beiträge führt er uns auf den Ortler, wo er auf Reinhold Messner, eine Herde Yaks und sogar Aleister Crowley trifft

Gerhard Hallstatt wird hier in unregelmäßigen Abständen einige seiner „Zeitkapseln“ veröffentlichen: Photographien von einzelnen „magical mystery tours“ mit Tagebuchaufzeichnungen.

„Die Kunst ist keine kleine darin, Dinge, die leicht und ohne Geräusche vorbeihuschen, Augenblicke, die ich göttliche Eidechsen nenne, ein wenig fest zu machen.“
(Friedrich Nietzsche: „Ecce Homo“)

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Dramatis personae: fünfundzwanzig Yaks, Reinhold Messner, Aleister Crowley
Schauplatz: Sulden, Hintergratsee, Südtirol

„Der Yak-Auftrieb mit Reinhold Messner begann in Sulden um halb zehn, ich war aber erst um zehn Uhr dort, und die Yaks waren schon unterwegs in Richtung Madritschhütte. Um elf Uhr sah ich die Yaks, schwarze, weiße und einige, die schwarz und weiß waren wie Feirefiz oder die Elster im Parzival. Es waren etwa fünfundzwanzig Yaks, der Bulle war mächtig, seine schwarzen Haare lang, der Kopf riesig. Mit seinen langen Hörnern wollte ich keine Bekanntschaft machen. Es gab auch einige Kälber, die wohl erst zwei bis drei Monate alt waren. Sie ästen auf einer Weide auf 2200 m neben einem Bach, zwischen rostbraunen, eisenhältigen Felsblöcken. Eine ideale Stätte. Aber der Bulle brummte später, und die Herde wanderte wie eine Karawane in eine Steinwüste, wo kein Grün wuchs. Warum?

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Ich wollte eigentlich zur Madritschhütte (2818 m) und über das Madritschjoch (3100 m) zur Zufallhütte im Osten, aber dort lag noch zuviel Schnee. Deshalb blieben die Yaks auch noch im unteren Teil. Ich änderte meinen Plan und ging zur Hintergrathütte. Ich überquerte den Suldenbach. Hier in Richtung Königsspitze waren die Yaks in der Steinwüste. Ich fand ein kleines Knäuel schwarze Yak-Wolle und nahm es mit. Etwas später sah ich, daß sich die Yaks in Bewegung setzten, sie folgten dem Weg, den auch ich ging. Der Weg war an einigen Stellen sehr schmal, die Yaks waren schneller als ich, und ich überlegte, wie ich einer zu engen Begegnung entkommen könnte. Aber dann erreichten sie eine Weide und blieben dort.
Ich ging langsam weiter. An dem kleinen See unter der Königsspitze stand eine verfallene Hütte. Hier machte ich eine lange Pause, genoß die Stille, die Nachmittagswärme, die Aussicht auf die weißen Berge. Ich blieb lange beim See. Als ich um fünf Uhr nachmittags weitergehen wollte, kamen die Yaks um die Ecke und gingen in das eiskalte Wasser. Es war ein wunderbarer Anblick. Auch die Kälber waren im Wasser. Ich filmte einige Minuten. Der langhaarige Bulle blieb am längsten im Wasser. Die Herde ging dann um einige Felsblöcke, der Stier wartete, vergewisserte sich, daß niemand folgte. Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, denn sie waren nur etwas sechs Minuten im Wasser. Ich war zur richtigen Zeit lang genug faul gewesen.

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Kurz vor halb sechs auf der kleinen Hintergrathütte (2661 m). Mit mir waren drei Gäste dort. Zwei planten für morgen den Hintergrat des Ortlers, den Aleister Crowley damals im Alleingang gegangen war. Auf dem Gipfel schauten ihn damals zwei andere Bergsteiger an, als sei er ein Geist. Auf der Hütte war es gemütlich. Ich erzählte von den Yaks im See. Der Hüttenwirt meinte, manchmal stehe im Sommer auch die ganze Herde vor der Haustür. Eine halbe Stunde später waren die Yaks da. Wie eine Karawane zogen sie zwischen Monte Zebru und Hintergratsee, dem See vor der Hütte. Aber hier lag noch zuviel Schnee, es gab noch nicht genug Nahrung. Die Yaks trotteten wieder hinunter. Wenn es manchmal im Sommer schneit, gehen die Yaks auch wieder ganz hinunter ins Tal. Es war warm, ich saß barfuß, mit nacktem Oberkörper auf der Terrasse. Richtung Madritschhütte lag noch viel Schnee, und ich würde wohl meine Route ändern und in Richtung Engadin gehen, solange ich Lust hatte.“

(Gerhard Hallstatt: Südtirol-Tagebuch, 28.06.2016)

[youtube https://www.youtube.com/watch?v=6B2Vk2B6T5E&w=854&h=480]

Biographisches

Gerhard Hallstatt, Oberösterreicher, steht mit seiner Dichtung, Tonkunst und Photographie in einer eigentümlichen Tradition mit Teufelskerlen, Troubadouren und Träumern seiner Heimat. Er ist Mitglied der Musikgruppe Allerseelen, deren bisher letzte Veröffentlichungen die CDs Terra Incognita, Dunkelgraue Lieder und Chairete Daimones waren. Seine Schriftenreihen Aorta und Ahnstern mit Traktaten und Tagebüchern sind vergriffen, erschienen aber unter dem Titel Blutleuchte auf englisch und französisch in Buchform.

Links
http://allerseelen.bandcamp.com/music
http://allerseelen.bandcamp.com/merch
https://www.facebook.com/allerseelen.allerseelen
https://www.facebook.com/gerhard.hallstatt.blutleuchte
Mail: aorta@gmx.at

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