Gerhard Hallstatt gibt uns die Ehre, in unregelmäßigen Abständen einige seiner „Zeitkapseln“ in unserem Blog zu veröffentlichen: Photographien von einzelnen „magical mystery tours“ mit Tagebuchaufzeichnungen.

Dramatis personae: Wilde Kerle. Ein Hubschrauber. Ein Erzbischof
Schauplatz: Hundstein, Pinzgau, Salzburg Land
„Kurz nach ein Uhr nachmittag stieg ich in Zell am See aus dem Zug. Es war heiß. Ich ging etwas am See entlang, suchte für mich und meinen Rucksack einen schattigen Platz in einer Wiese und war wenige Minuten später im Wasser. Es war herrlich. Auf der Ostseite des Sees sah ich einen grünen Berg, der bis zum Gipfel mit Gras bewachsen war: der Hundstein, 2117 m – mein Ziel. Dort oben würde morgen vormittag auf über zweitausend Meter Seehöhe ein einzigartiger Ringkampf in den Bergen stattfinden: das Jakobi-Ranggeln.
Ich ging auf die andere Seite des Sees und war um halb vier Uhr in Thumersbach. Von dort stieg ich auf den Hundstein. Die Hitze war jetzt feucht, sie machte den im Grunde leichten Aufstieg anstrengend und schweißtreibend. An jedem Brunnen trank ich Wasser. Von einer unsichtbaren Weide hörte ich Kuhglocken. Kühe trinken an heißen Tagen bis zu hundert Liter Wasser. Mir ging es ähnlich. Ich ging langsam, ließ mir Zeit. Über mir sah ich einen Hubschrauber. Er flog wohl Verpflegung auf das Statzer Haus auf dem Gipfel des Hundsteins. Diese Berghütte war heute nacht sicher voll, die Kehlen der Gäste durstig. Ich traf nur einen Wanderer, er stieg ab, fröhlich und angeheitert von den Getränken im Statzer Haus.

Noch war der Himmel enzianblau. Bald aber tauchten die ersten Wolken auf. Um sieben Uhr abends war der Himmel im Westen gewittrig grau. Die ersten Blitze zuckten über den Loferer Steinbergen. Das Gebiet um den Zeller See ist berüchtigt für schwere Gewitter und gewaltige Hagelkörner. Um halb acht sah ich auf 1700 m neben dem Weg eine schöne, ebene Wiese zwischen zwei kleinen Jagdhütten. Auch eine Quelle gab es und eine gemütliche Holzbank. Dieser Ort war ideal, eine geeignetere Stelle für eine Nacht im Zelt würde ich kaum finden. Im Westen hörte ich bereits erstes Donnergrollen, die Blitze in der bleifarbenen Wolkenhölle waren lichterloh. Bei den pechschwarzen Bergen herrschte ein eigentümliches schwefelgelbes Licht. Über dem See regnete es. Auch eine rätselhafte goldfarbene Kugel sah ich über dem Horizont – seltsamerweise begriff ich erst nach einiger Zeit, daß es die untergehende Sonne war.

Ich baute das Zelt auf. Es war neu, ich verwendete es heute zum ersten Mal. Als es auf der Wiese stand, war es halb neun, und ich wollte in Ruhe auf der Holzbank jausnen und das Schauspiel eines allmählich näherkommenden Gewitters genießen. Dann aber wurde es plötzlich sehr windig. Ich wußte, was das bedeutete: Für ein gemütliches Essen im Freien blieb keine Zeit. Die ersten Tropfen fielen. Als ich im Zelt war, begann es stark zu regnen. Ein Wolkenbruch prasselte auf das Zeltdach. Zur Hütte auf dem Hundstein hätte ich es ganz sicher nicht mehr geschafft. Aber das hatte ich auch nicht geplant. Ich war froh, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Mein Zelt bestand seinen ersten Härtetest.
Das Gewitter war heftig, Blitze und Donner schienen in nächster Nähe zu sein. Im Zelt aber war es sehr angenehm, ich aß und trank im Inneren. Alles blieb trocken, es hatte 21° C. Ich trank auch etwas bitteren Enzianschnaps. Ich war überzeugt, daß das Ranggeln morgen auf dem Hundstein eine Schlammschlacht im wahrsten Sinn des Wortes werden würde. Ich las noch ein bißchen im Licht der Stirnlampe. Gegen zehn Uhr schlief ich ein. Irgendwann in der Nacht hörte es zu regnen auf.“ (Gerhard Hallstatt, 27.07.2013)

„Ich erwachte um halb acht. Der Himmel war wieder ganz blau, aber das Gras war noch naß. Ich hatte recht gut geschlafen. Als ich das Zelt abbaute, sah ich auf dem nahen Weg schon die ersten Wanderer. Sie hatten das gleiche Ziel: Das Hundstoa-Ranggeln, das immer um den Jakobitag stattfand, den 25. Juli. Im Alten Testament wurde ein Ringkampf erwähnt: Jakob kämpfte eine ganze Nacht gegen einen Unbekannten, der ein Engel war oder auch Gott – Jakob aber war stärker, er ließ seinen Gegner nur am Leben, nachdem er von ihm gesegnet wurde. Um acht Uhr hatte ich alles in meinem Rucksack verstaut. Ich stieg weiter auf zum Gipfel, begegnete einigen Schafen, Kühen, Pferden. Im Süden sah ich Großglockner und Kitzsteinhorn, im Norden Schönfeldspitze und Hochkönig, dahinter das Steinerne Meer.
Um neun Uhr war ich auf dem Hundstein: Beim Statzer Haus war viel los. Ich sah Hunderte Menschen. Das Wetter war großartig, ein wunderbares Lüftchen wehte. Schauplatz des Jakobi-Ranggelns war eine rechteckige Wiese, die etwa zwanzig Meter lang und zehn Meter breit war. Sie lag zwischen zwei Grashängen, die sich langsam mit Zuschauern füllten. Das Gras war noch feucht. Letzte Vorbereitungen. Im Publikum waren zahlreiche hübsche Mädchen. Viele Burschen trugen Lederhosen. Die Ranggler in ihrer schneeweißen Kleidung waren barfuß.

Die Ringkämpfe begannen mit einer Rede des Veranstalters. Er sagte: ,Im Salzburgischen heißt es, der Bürgermeister sei für das gute Wetter zuständig und der Pfarrer für das schlechte.‘ Neben ihm stand der Erzbischof von Salzburg, ein rotes Käppchen auf dem Kopf – vielleicht war er ja für das gestrige Gewitter verantwortlich. Ich vermutete jetzt, daß die kostbare Fracht an Bord des Hubschraubers gestern der Erzbischof gewesen war. Daß er zu Fuß auf den Hundstein gestiegen war, konnte ich mir nicht vorstellen.
Der Erzbischof hielt eine Bergmesse. Auf dem weißgedeckten Altar vor ihm stand eine Vase mit Wiesenblumen. Daneben lag Brot in einem Korb. Über seine schwarze Kleidung legte er ein weißes Ornat, darüber einen grünen Umhang. Das rote Käppchen wechselte er später gegen eine Mitra. Er vermißte ein Gipfelkreuz auf dem Hundstein, Einheimische aber sagten ihm, daß es sehr wohl eines gab – es war nur von seinem Standort aus nicht sichtbar. Er las aus der Genesis, in der der Ringkampf des Jakobs mit dem Engel oder Gott vorkam, er sprach über Abraham, über Sodom, verwendete auch das Wort Ranggler. Sägespäne umgrenzten den Kampfplatz vor dem Altar wie einen heiligen Bezirk: Der Ursprung des Ranggelns war etwas Religiöses, ein Ritual, das christliche oder auch nichtchristliche Wurzeln hatte. Wer aber war Jakob, wer war Engel, wer war Gott? Wer segnete wen? In seiner Predigt erwähnte er auch Papst Franziskus, der heute in Rio de Janeiro war. Beim Wort ,Copacabana‘ versprach er sich. Dann sang der Erzbischof, und laut krähend schloß sich ihm nach den ersten Tönen der Hahn an, der im Hühnerstall des Statzer Hauses herrschte. Später kamen aus der Berghütte Musikanten. Sie trugen Lederhosen, gingen durch das Gras, das an einigen Stellen im Schatten noch rutschig war. Ihre Trompeten glänzten im Sonnenlicht. Was sie spielten, klang wehmütig, traurig. Vier Burschen ließen ihre Peitschen zur Blasmusik knallen.
Das Ranggeln startete. Es fanden immer zwei Kämpfe gleichzeitig statt. Jeder Kampf begann mit dem Pfiff eines Schiedsrichters, die rechten Hände der beiden Ranggler berührten sich, bevor es losging. Es gab verschiedene Altersklassen. Zuerst kämpften Buben im Alter zwischen acht und zehn Jahren. Die Ranggler standen oft Stirn an Stirn und versuchten, sich durch Ziehen oder Reißen vorn oder hinten am weißen Hemd aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sieger war, wem es gelang, den Gegner aufs Kreuz zu legen. Der Kampf ging dann im Gras weiter, das jetzt trocken war.

Das Ranggeln war ein jahrhundertealtes Kräftemessen auf dem Hundstein. Bei jedem Wetter fand es statt. Auch in den beiden Weltkriegen war es nie ausgefallen. Ich erfuhr, daß es in den letzten Jahren beim Ranggeln oft geregnet hatte. Die Regeln waren streng, nur bestimmte Griffe und Bewegungen waren erlaubt. Die Kleidung war weiß, jedenfalls vor dem Kampf, und sehr reißfest. Das Ranggeln war lautlos, hier gab es keine Schreie oder Flüche. Nur der Atem der Kämpfer war zu hören, wenn die Burschen im Eifer des Ranggelns plötzlich im Publikum landeten. Dann pfiffen die Schiedsrichter sie zurück. Die meisten Ranggler kamen aus dem Pinzgau oder einem der anderen Gaue Salzburgs, einige auch aus Osttirol und Bayern. Die meisten waren zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich trank Wasser und Radler, ab und zu ein bißchen von meinem Enzianschnaps. Ich photographierte viel, filmte auch einige Ranggler. Um drei Uhr war das Ranggeln vorbei.

Bei der Preisverleihung bekam der Sieger, der Hagmoar, der Meister des Geheges, eine Fahne, die er bis zum nächsten Ranggeln behalten durfte, In der Vergangenheit bedeutete diese Fahne offenbar auch, daß der Sieger ein Jahr lang als Richter bei Grenzstreitigkeiten galt. Ich blieb noch einige Zeit auf dem Gipfel und stieg dann langsam ab in Richtung Maria Alm auf der Nordseite des Hundsteins.“ (Gerhard Hallstatt, 28.07.2013)
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