Zeitkapsel 007: Das brennende Boot, Komiža. Vis, Kroatien 06.12.2011

Ursprünglich wollte unser Gastautor Gerhard Hallstatt auch heuer wegfahren – zum Beispiel zu dieser Zeremonie auf der kroatischen Insel Vis. Die Corona-Sperre aber „erlaubte“ ihm nur, in alten Tagebüchern und Photoalben zu blättern – in der Hoffnung, vielleicht 2021 wieder reisen zu „dürfen“. Unvorstellbar. Corona-Erziehungsdiktatur

Gerhard Hallstatt gibt uns die Ehre, in unregelmäßigen Abständen einige seiner „Zeitkapseln“ in unserem Blog zu veröffentlichen: Photographien von einzelnen „magical mystery tours“ mit Tagebuchaufzeichnungen.

Dramatis personae: Krampus, Nikolaus, Boote, Katzen, Chiara Bove Makiedo, Hermann Hesse, H. P. Lovecraft
Schauplatz: Komiža, Vis, Kroatien

„05.12.2011. Würde morgen im Ort Komiža auf der kleinen kroatischen Insel Vis ein Boot zu Ehren des heiligen Nikolaus verbrannt werden? Ich war nicht ganz sicher. Im Hafen von Split erfuhr ich aber, daß diese alte kroatische Tradition morgen vormittag stattfinden würde. Ich war begeistert und kaufte ein Ticket für die Fähre nach Vis: 45 Kuna – sehr preiswert für eine doch recht lange Überfahrt.

Um elf Uhr startete die Fähre. Die Wolken über der Stadt schienen ebenso schwer und bleigrau wie die Gebirge im dalmatinischen Hinterland. Über dem Meer aber war der herbstliche Himmel silberhell. Das Brummen der Schiffsmotoren kam mir vor, als schnurrte unter Deck ein gewaltiger Kater. Niemand an Bord wirkte, als sei auch er unterwegs zu dem brennenden Boot. Heute war Krampustag. Ich hatte einige kleine rote und schwarze  Krampusse mit: Zwei würde ich kroatischen Fräuleins in Split schenken, zwei andere hatten bereits die beiden wilden Kerle auf der wunderbaren Berghütte Ramića Dvori in der Velika Paklenica im Velebit-Gebirge, wo ich zehn Tage verbracht hatte. Die salzhältige Luft tat mir gut. Silbern wie der Himmel war auch das Meer. Immer wieder sah ich dunkle kleine Inseln. Vor kurzem hatte ich über die Insel Jabuka im Westen von Vis gelesen: Ihr eisenhältiges Lava-Gestein irritierte seit vielen Jahrhunderten die Kompasse der Seeleute.

Um halb zwei landete die Fähre im Ort Vis auf der gleichnamigen Insel.  Ich spürte einige Regentropfen. Schon jetzt, so früh am Nachmittag, herrschte eine abendliche Stimmung. Viel heller und heiterer würde es heute wohl nicht mehr werden. Am Hafen wartete ein Bus, sein Ziel war Komiža, der zweite Ort auf der Insel. Die Insel war im Grunde ein einziger dichter Wald, in der Berghütte in der Velika Paklenica hatten mir die Burschen von einer Wanderung von Vis nach Komiža erzählt. Ich wußte auch von einem Tito-Bunker, der jetzt besichtigt werden konnte.

Um zwei Uhr war ich auf der anderen Seite der Insel. Das Fischerdorf  Komiža aber wirkte ausgestorben wie in einer Erzählung von H. P. Lovecraft. Nur einige Katzen brachten etwas Leben in den Ort. Ich sah auch keine soba-Schilder – soba ist das kroatische Wort für Zimmer. Orangen, Zitronen wuchsen auf den Bäumen. Oberhalb des Dorfes, am Hang des Berges Hum, in dem sich auch der Tito-Bunker verbarg, waren ein Friedhof und die kleine Kirche Sveti Nikola – und dort schien das ganze Dorf versammelt. Vielleicht fand eine Beerdigung statt? Als ich aber auch Besucher in bunter Kleidung und zahlreiche Feuerwehrleute sah, befürchtete ich plötzlich, daß die Bootsverbrennung doch schon heute, am Krampustag, stattgefunden hatte. Erleichtert aber sah ich dann bei der Kirche einen Holzstoß, der noch unversehrt war. In der Nähe lagen auch zwei alte Fischerboote, ein größeres und ein kleineres, wie aufgebahrt zwischen den Gräbern. Sie waren ganz sicher die Opfergaben für diesen Scheiterhaufen. Von einem Kameramann aus Zagreb erfuhr ich, daß die Verbrennung morgen um zehn Uhr beginnen würde.

Tatsächlich gab es ein Begräbnis. Viele Mädchen und Frauen hatten Blumen. Ein Sarg wurde aus der Kirche getragen. Auch er erinnerte mich an ein Boot. Wieder fielen mir die zahlreichen Feuerwehrmänner auf, und als ich auf dem Sarg einen silbernen Feuerwehrhelm sah, begriff ich, daß offenbar ein Kamerad gestorben oder verunglückt war. Zwei traurige Trompeten erklangen. Ich hörte auch einen schaurigen Ton, als habe sich ein Esel unter die Trauergäste gemischt. Wieviele Leute würden wohl zu meinem Begräbnis kommen? Und was würde auf meinem Sarg liegen – ein Paar Kopfhörer? Allerdings wollte ich eines Tages eher irgendwo im Karst spurlos verschwinden. Eine Gegend in Slowenien mit vielen tiefen Dolinen, die Zgornja Komna beim Triglav, schien mir dafür wie geschaffen. Viele Gräber waren geschmückt. Vom Friedhof hatte man einen wunderbaren Blick aufs Meer. Für einen kroatischen Freund in Irland, dessen Wurzeln auf dieser Insel lagen, suchte ich das Grab des Dichters Ranko Marinković.

In einer Werkstatt sah ich nagelneue Boote – als warteten sie schon jetzt darauf, eines Tages eingeäschert zu werden. Aber bis dahin würden sie noch viele Jahre auf dem Meer verbringen. Schließlich fand ich ein Hotel. Es war fast leer. Ich nahm ein Zimmer und blickte vom Balkon auf das graue Dezembermeer und die Insel Biševo. In einem kleinen Geschäft kaufte ich eine Flasche Plavac und Paprika-Chips.

Um halb fünf war es schon finster. Um sechs Uhr abends ging ich noch einmal zum Friedhof. Er war jetzt leer, als hätte ich mir das Begräbnis am Nachmittag nur eingebildet. Die beiden alten Boote aber lagen noch immer auf ihrem Platz. Sie würden eingeäschert werden, nicht beerdigt wie der Tote. In mir spürte ich eine ketzerische Lust, in einem eigenen kleinen Ritual die Boote jetzt schon anzuzünden, ließ das aber glücklicherweise sein. Ich dachte an den toten Feuerwehrmann, der erst vor wenigen Stunden begraben worden war – noch war er Fleisch und Blut. Unterirdisch aber waren ganz sicher die ersten Tiere bereits unterwegs zu ihm, eine Trauergemeinde der besonderen  Art.

Im leichten Regen ging ich langsam zurück. Ein kleines Kätzchen begegnete mir in einer Gasse. Es war lieb und zutraulich. Das zeigte mir, daß in diesem kleinen Dorf die Welt noch in Ordnung war – das Tier hatte noch keine schlimmen Erfahrungen mit den Menschen gemacht. Ich hatte keine Lust auf eine Hafenbar. Auf mich warteten im Hotelzimmer ein dunkler kroatischer Rotwein und auch ein Buch. Auf dem Balkon las ich Hermann Hesses Narziß und Goldmund, trank dazu Plavac und aß Chips, die salzig waren wie das Meer. Seltsamerweise hieß eine Gestalt in diesem Buch Niklaus. Es war der Name des Meisters, in dessen Werkstatt der unersättliche Goldmund mit ungewohnter Geduld eine schöne Skulptur schuf, um danach wieder auf Wanderschaft zu gehen. Dichtung und Wirklichkeit bereicherten sich auf diese Weise gegenseitig. Ich dachte an den kroatischen Bildhauer Ivan Mestrović. Das nächtliche Meer aber atmete ein und aus, arbeitete gnadenlos und unermüdlich. Dieses Ewige und Unentwegte war mir unheimlich. Stille war für das Meer ein Fremdwort. Seine Wellen boten keinen Halt. Entsprach das Leben eher dem Meer oder dem Land? Jede Welle hieß auch ein Lied, eigentlich eine Art Requiem, das ich einmal für eine Violinistin aus dem dalmatinischen Hinterland geschrieben hatte: „Jede Welle bringt die Wahrheit näher, zeigt, was Märchen ist, was mehr. Was aber bleibt vom Salz der Nacht.“ Der Name der Stadt Split klang auch sehr stark nach Abschied.

In der Bergwelt fühlte ich mich wohler, geborgener. Eine schöne Kroatin, deren Mutter aus Komiža stammte, hatte mir gesagt, in ihrer Sprache gebe es kein eigenes Wort für Geborgenheit. Ich hatte Meer und Wein und Dichtung und wünschte mir die Gegenwart dieser kroatischen Prinzessin. Auf der Insel fühlte ich mich ein bißchen wie ein Boot auf dem Trockenen. Wie eines jener nagelneuen Boote, das seine vita activa noch vor sich hatte – oder wie eines der beiden altersschwachen Boote, die nur noch den Scheiterhaufen vor sich hatten? Um elf Uhr nachts regnete es leicht, ich legte mich schlafen.“

„06.12.2011. Überall im Dorf waren Katzen, und jetzt waren auch mehr Menschen unterwegs. Auf dem Weg zum Friedhof lernte ich die italienisch-kroatische Filmemacherin Chiara Bove Makiedo kennen, sie arbeitete an einem Film über Fischer in Kroatien: Fishermen’s Conversations. Ich ging zur Sveti Nikola-Kirche. Auf dem Scheiterhaufen lag jetzt das große Boot, darauf das kleinere. Um zehn Uhr hörte ich Böller. Die Glocken begannen zu läuten. Eine halbe Stunde später wurden die beiden Boote ganz unzeremoniell angezündet. Ich hatte eigentlich eine kleine Choreographie erwartet. Die Boote fingen rasch Feuer. Wie goldene Wellen züngelten die Flammen. In einem kleinen Flammenmeer gingen die Boote langsam und knisternd unter. Funken flogen auf und fielen als weiße Asche zu Boden. In der Finsternis wäre alles wohl noch wesentlich beeindruckender gewesen. Die beiden alten Boote wurden dem heiligen Nikolaus, dem Schirmherrn der Fischer und Seeleute, geopfert – ich fand es eigentümlich, daß der gleiche Brauch nicht auch in vielen oder allen anderen Fischerdörfern existierte. Ich stellte mir ein Ritual vor, in dem auf der Glut der Boote Fische gebraten würden – und ein kroatischer Heiland eine magische Fischvermehrung bewirken würde.

Um elf Uhr fand eine Messe statt. In der Kirche waren auch viele Kinder. Ein Priester predigte, jemand spielte auf einer Orgel, ein Chor sang. Weihrauch stieg auf. Im Mittelpunkt der Andacht stand die Nikolaus-Statue mit den drei Kugeln auf dem Buch. In den Kirchenboden waren viele Grabsteine eingelassen. Manche trugen nur Nummern: XXXXI, XXXXII, andere aber zeigten seltsame Totenköpfe mit gekreuzten Knochen. Draußen loderten die Boote, das Knistern war auch im  Kircheninneren zu hören. Anschließend wurde in einer kleinen Prozession die Statue des heiligen Nikolaus zu den brennenden Booten hinuntergetragen. Die Augen der Statue wirkten unbeeindruckt. Aber selbstverständlich hatten sie schon Hunderte brennender Boote gesehen.

In einer Hafenbar las ich etwas in Narziß und Goldmund. Wieder traf ich Chiara. Sie erzählte eine Legende von der Insel Jabuka: Auf dem höchsten Punkt der Insel wächst eine weiße Blume; die alten Fischer erzählen den jungen, daß sie nicht gepflückt werden darf, denn sonst würde es nicht mehr genug Fische für alle geben. Ich mochte diese Sage. Etwas später begann es stark zu regnen. Die Teilnehmer der Boot-Zeremonie hatten Glück gehabt. Vielleicht schützte der heilige Nikolaus nicht nur die lebenden Boote auf dem Meer, sondern auch die toten auf dem Scheiterhaufen. Wenn jetzt ein Sturm, die wilde kroatische Bura, über der Adria aufziehen würde, würde kein Schiff auslaufen können.

Um drei Uhr nahm ich den Bus nach Vis, um halb vier war ich auf der Fähre zurück nach Split. Über dem Horizont hingen finstere Wolken. Sie waren schwarz wie Tinte und schienen aus dem dunklen Meer zu trinken. Ich dachte wieder an H. P. Lovecraft. Ich sah einzelne Blitze im Südwesten. Um fünf Uhr war es schon wieder pechschwarze Nacht, es regnete stark. Ich aber saß im Schiffsbauch, trank Ožujsko-Bier und aß einige Bruschetta-Brötchen.“

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